Die weltlichen Leidenschaften
(bonnô; sanskr. klesas)(*1)


Die dreifache Formel zur zweiten edlen Wahrheit (über den Ursprung des Leidens)(*3):
- Weltliche Leidenschaften erzeugen kausale Aktionen (shuku-go; sankr. karmas)
- Karma erzeugt die ursprünglichen Leiden (shiku-hakku; sankr. duhkhas)
- ursprüngliche Leiden erzeugen weltliche Leidenschaften (bonnô; sanskr. klesas)


Bevor Shakyamuni Buddha die Idee der "zwölfgliedrige Kette bedingten Entstehens"(*4) entwickelte, hat er diese dreifache Formel zur Erklärung der zweiten edlen Wahrheit verwendet.

Die weltlichen Leidenschaften werden gewöhnlich wie folgt kategorisiert:

falsche Absicht (Beweggrund) falsche Ansichten (Meinung)
1 Gier, sinnliches Verlangen 6 Unglaube an Ursache & Wirkung
2 Wut 7 Anhaftung an Sichtweisen
3 Ignoranz 8 Glaube an das Ego, Egozentrismus
4 Arroganz, Hochmut 9 Glaube an Extreme, ausschließliche Betrachtung aller Dinge als dualistisch
5 Zweifel 10 Glaube, dass Rituale oder Askese zur Erlösung oder zur Erleuchtung führen

Die ersten Vier nennt man die Leidenschaften der falschen Absichten. "Zweifel" und die "fünf falschen Sichtweisen" werden als die Leidenschaften der falschen Ansichten bezeichnet.

Die meisten weltlichen Leidenschaften sind konzeptionelle Fehler, welche durch den Weg des Inneren, die rechte Erkenntnis der vier edlen Wahrheiten, beseitigt werden können. Das gilt für die "Zweifel" und die "fünf falschen Sichtweisen".

Zum Teil können die vier Hartnäckigsten auch durch die Erkenntnis der vier edlen Wahrheiten beseitigt werden, allerdings wohnt diesen Leiden ein gewohnheitsmäßiger und tief verwurzelter Aspekt inne, der lediglich durch kultivieren der Meditationspraxis beseitigt werden kann.


In der buddhistischen Praxis:

Falsche Motive werden zur rechten Absichten:
1. Gier wird zu Großzügigkeit
2. Wut wird zu Geduld und Ausdauer
3. Ignoranz wird zu Weisheit
4. Arroganz wird zu Annehmen der Grundsätze in Demut
5. Zweifel und Zerstreuung werden zur mentalen (meditativen) Konzentration

Falsche Meinungen werden zu rechten Ansichten:
6. Unglaube an Ursache & Wirkung wird zum Glauben an Ursache & Wirkung und zum Verständnis von Karma und Vergeltung
7. Anhaftung an Sichtweisen wird zum Verständnis der Dialektik der Leerheit
8. Glaube an das Ego wird zum Verständnis des Nirvana
9. Glaube an Extreme wird zum Verständnis des mittleren Weges
10. Glaube, dass Rituale oder Askese zur Erlösung oder zur Erleuchtung führen wird zum wahren Verständnis des Pfades der Erleuchtung


Die Lehre der "108 Arten der weltlichen Leidenschaften" stammt aus dem Abhidharma(*2) und erklärt den Umgang mit den Emotionen im Detail. Die unterschiedlichen Arten der weltlichen Leidenschaften sind die Gebrechen des Geistes, welche die Einsicht in die Realität trüben oder verhindern.

Die 108 setzten sich folgendermaßen zusammen:

36 im Reich der Begierde:

A. 10 beseitigt durch die wahre Erkenntnis über die Existenz des Leidens: siehe Tabelle

B. 7 beseitigt durch die wahre Erkenntnis über den Ursprung des Leidens: die Zehn ohne Glaube an das Ego, Glaube an Extreme und Glaube, dass Rituale oder Askese zur Erlösung oder zur Erleuchtung führen

C. 7 beseitigt durch die wahre Erkenntnis über Aufhebung des Leidens: wie B.

D. 8 beseitigt durch die wahre Erkenntnis über den Pfad zur Aufhebung des Leidens: wie B., aber inklusive Glaube, dass Rituale oder Askese zur Erlösung oder zur Erleuchtung führen

E. 4 beseitigt einzig durch die Praxis der Meditation: Gier, Wut, Ignoranz und Arroganz

31 jeweils im Reich der Form und der Formlosigkeit (zusammen 62): In diesen beiden Reichen gibt es keinen Hass, da sie von der Begierde nach Nahrung und Sex gereinigt sind. Weil das Reich der Begierde mit mehr Leiden verbunden ist, ist es einfacher die ehr groben Leidenschaften zu beseitigen. Das Reiche der Form und das der Formlosigkeit hingegen sind mit wesentlich feineren Arten von Zufriedenheit verknüpft, das macht es wesentlich schwieriger, die Leidenschaften zu eliminieren.

A. 9 jeweils beseitigt durch die wahre Erkenntnis über die Existenz des Leidens: wie oben, ohne Hass

B. 6 jeweils beseitigt durch die wahre Erkenntnis über den Ursprung des Leidens: wie oben, ohne Hass

C. 6 jeweils beseitigt durch die wahre Erkenntnis über Aufhebung des Leidens: wie oben, ohne Hass

D. 7 jeweils beseitigt durch die wahre Erkenntnis über den Pfad zur Aufhebung des Leidens: wie oben, ohne Hass

E. 3 jeweils beseitigt durch die Praxis der Meditation: Gier, Ignoranz und Einbildung

10 sekundäre Leidenschaften: Fehlen von Scham, Fehlen von Betretenheit (gegenüber Anderen), Neid, Geiz, Bedauern, Schläfrigkeit, Ruhelosigkeit (Zerstreutheit), Faulheit, Zorn und die Verschleierung von Verbrechen.

Daraus ergibt sich die Formel 36 + 31 + 31 + 10 = 108



Anmerkungen von Ralf "SoGen" Boeck:
(*1) 'Leidenschaften' ist eigentlich eine etwas zu enge Übersetzung des jap. 'bonnô'. 'bonnô' umfasst neben der Bedeutung 'Leidenschaften' auch die Bedeutungen 'weltliche Sorgen', 'Sinnliche Begierden', 'Leiden', 'Schmerzen' usw. - alles, was mit einer verblendeten Weltsicht zusammenhängt.

(*2) Das ist problematisch - ich halte dies für eine Fehlinformation oder doch zumindest für missverständlich und irreführend. Jedenfalls kann nicht der Abhidharma des Palikanon gemeint sein; die Theravadin haben eine völlig andere Systematik der kilesa (klesa). Generell ist heute jedoch von diesem Textkorpus die Rede, wenn allgemein von 'Abhidharma' gesprochen wird. Die Sarvastivadin hatten allerdings einen eigenen Abhidharma, der jedoch nur in Bruchstücken überliefert ist, die mir inhaltlich nicht weiter bekannt sind. Wahrscheinlich stammt diese Überlieferung von dort.
Konkret dürfte allerdings Vasubandhus Abhidharmakosa-bhasya (Apidamo jushe lun / Abi-datsuma kusharon) gemeint sein; eine Zusammenfassung des Sarvastivada-Abhidharma (und gleichzeitig kritische Auseinandersetzung damit) in Versform. Vasubandhu wandte sich später der Yogacara-Schule zu und so wirkte das Abhidharmakosa-bhasya auf die Entwicklung der Doktrin der Yogacarin und damit auch auf die späteren Mahayana-Schulen wie z.B. auch T'ien-t'ai.
Den Text selbst kenne ich ebenfalls nicht, es existiert meines Wissens lediglich eine französische Übersetzung der chinesischen Fassung Xuanzangs (Vallée Poussin 1931) und eine englische Teilübersetzung (2 Kapitel von insgesamt 9) des Sanskrit-Urtextes (Jha 1983).

(*3) Die "dreifache Formel zur zweiten edlen Wahrheit" ist jedenfalls definitiv im Abhidharma-kosa überliefert. Ich kenne sie allerdings in etwas anderer Form. Danach werden die bonnô durch drei zusammenwirkende Faktoren erzeugt:
1. durch die (karmische) Kausalwirkung bereits bestehender bonnô (stimmt mit dieser Systematik überein)
2. durch begleitende Umstände, d.h. durch die durch Gier erzeugten, aufsteigenden Objekte
3. durch das Anhaften an den Objekten
- 1. und 2. entsprechen natürlich der klassischen Formel von 'Ursachen und Bedingungen' -
Möglicherweise wurde die ursprüngliche Dreierformel im T'ien-t'ai etwas abgewandelt.

(*4) Der Klarheit halber könnte vielleicht der Ausdruck "Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit" verwendet werden. Pratityasamutpada (pali paticca-samuppada) heißt lediglich 'abhängiges Entstehen'.


Anmerkung des Autors und Quellenangabe:
Der Sinn und Inhalt dieser Zusammenfassung konnte hoffentlich, trotz meines bescheidenen Wissens über die buddhistischen Lehren, vollständig und verständlich dargelegt werden.
Das Angesprochene "dreifache Reich" ist Teil der "zehn spirituellen Reiche". Diese bedürfen einer gesonderten Behandlung, da es sich um ein weiteres ausführliches Thema handelt.

Dieser Text ist der Versuch eine Quelle für die Lehre der "108 weltlichen Leidenschaften" in deutscher Sprache zu schaffen. Er basiert größtenteils auf einer angepassten Übersetzung aus dem Englischen und entstammt der T'ien T'ai-Schule. Die beiden Texte sind zu finden auf www.tientai.net.

Danke an Ralf "SoGen" Boeck für die wertvollen Hinweise!

()
HvS 11/2004

 
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